Rathauskind

Um die Mutter meines Vaters von der Mutter meiner Mutter zu unterscheiden, hieß die eine Omma Goosen und die andere Omma Rathaus. Die bewohnte nämlich zusammen mit Oppa eine Dienstwohnung ebendort, von denen es seinerzeit insgesamt drei gab. Eine für den Hausmeister, im Parterre, da, wo heute, auf der hinteren Seite des Rathauses, der Eingang zum Bürgerbüro ist. Eine für den Elektriker, im vierten Stock, mit Blick auf die Christuskirche. Und die für den Heizungsmonteur, gleich daneben. Der Heizungsmonteur war mein Oppa. Und ich war das Rathauskind.

Im riesigen Rathaus zu wohnen war nicht nur ein Abenteuer, sondern bot einige handfeste Vorteile. Die Miete war lächerlich niedrig, Omma und Oppa konnten umsonst telefonieren und die Hälfte der Steckdosen lieferte Gratis-Strom. Wieso die Hälfte, daran kann sich meine Omma nicht mehr erinnern.

Meine Mutter hat hier ihre komplette Kindheit verbracht. Auch sie war ein Einzelkind, ausgestattet mit einem gewissen Maß an anarchischer Energie. Mal machte sie sich die Mühe, das seitliche, ausschließlich zur Wohnung meiner Großeltern führende Treppenhaus mit bunten Kreidefiguren zu verzieren, was eine ziemliche Arbeit war. Stundenlang hatte sie damit zu tun gehabt, und doch wurde es ihr nicht gedankt. Meine Omma hatte stundenlang damit zu tun, das alles wieder wegzuwischen, lachte sich aber die ganze Zeit kaputt. Sie hatte einen Sinn fürs Anarchische, wenn sie ihn auch nie radikal ausgelebt hat, aber immerhin hat sie zum Beispiel beim Arbeitsdienst in Berlin als Straßenbahnschaffnerin absichtlich falsche Haltestellen angesagt, damit die Leute noch ein bisschen Bewegung kriegten. Mein Oppa hatte weniger Sinn für Anarchie und auch keinen für moderne Kunst, weshalb es von ihm für diese Malaktion, im Einklang mit den Erziehungsmethoden der Fünfzigerjahre, mit Schmackes hinter die Löffel gab.

Ein anderes Mal schlössen meine Mutter und ihre beste Freundin einen bei der Stadt angestellten Schreiner in seiner Werkstatt ein, schoben einen Wasserschlauch durch das Oberlicht und scheuchten den Mann durch den Raum, bis er sich in einem Schrank versteckte. Auch darüber war Oppa nicht amüsiert. Noch Jahrzehnte später verfinsterte sich sein Gesicht, wenn er davon erzählte: »Ich sach dir, da hatte der Arsch von deine Mutter Kirmes!«

Meine Lieblingsgeschichte ist die vom Zapfenstreich des Maiabendfestes. Das Maiabendfest ist alter Brauch in Bochum und geht auf eine historische Begebenheit zurück. Im vierzehnten Jahrhundert sollen die wilden Horden, die damals wie heute die Stadt Dortmund bewohnten, dem Grafen Engelbert von der Mark eine Herde Vieh gestohlen haben, worauf sich der Graf an die Bochumer Bürger wandte, ihm zu helfen. Ein Dutzend Bochumer Junggesellen zogen daraufhin los, vertrimmten die Dortmunder und gaben dem Grafen die Kühe zurück. Als Belohnung durften sie von nun an jedes Jahr am Vorabend des 1. Mai im gräflichen Wald eine ausgewachsene Eiche abholzen, die einem verdienten Bochumer Bürger übergeben wurde, der wiederum ein Schützengelage, eben das Maiabendfest, ausrichtete. Da es im Ruhrgebiet allgemein üblich ist, noch die nichtigste Kleinigkeit zu einem Gelage zu nutzen, und viele es immer feierwürdig finden, wenn Dortmunder vertrimmt werden, wird das heute noch an jedem letzten Samstag im April gefeiert, wenn auch in sehr viel kleinerem Rahmen.

In den Fünfzigern versammelte man sich am Freitagabend bei Fackelschein zum großen Zapfenstreich auf dem Bochumer Rathausplatz. Omma, Oppa und Mama verfolgten das Spektakel von einem Flurfenster im ersten Stock. Meine Mutter hatte sich ein Fenster allein gesichert, mit ein paar Metern Abstand zu ihren Erzeugern. Und gerade als es hieß »Hut ab zum Gebet«, leerte Muttern einen riesigen Sack Konfetti über den Häuptern der feierlich Innehaltenden aus. Den Sack hatte sie sich in der Stadtdruckerei besorgt, die seinerzeit praktischerweise im gleichen Stockwerk untergebracht war wie die Wohnung von Omma und Oppa. Der Wind trug die Papierschnipsel über den ganzen Platz, der Blick des Oberbürgermeisters ging erst zum Himmel und fand dann den meines Oppas, der erst langsam begriff. Meine Omma war etwas schneller gewesen und hatte schon angefangen sich kaputtzulachen. »Da war ich gerne selber drauf gekommen!«, vertraute sie mir zwanzig Jahre später an.

Meine Mutter war noch mit Mitte vierzig stolz auf diese Aktion. »Aber ich konnte drei Tage nicht sitzen!«, gab sie zu Protokoll.

Es gab nichts, was Omma im Rathaus nicht besorgen konnte. Zum Beispiel einen Telefonhörer, mit dem ich so gerne spielte, dass man ihn mir sogar in den Kinderwagen legte. Als sich einmal bei einem Stadtspaziergang ein Bekannter über mich beugte und Heititei machte, war er nicht wenig verblüfft: »Dat gibbet doch nich! Dat Blach hat Telefon im Kinderwagen!«

Um ein Haar hätte ich im Bochumer Rathaus schon im Alter von achtzehn Monaten mein junges Leben ausgehaucht. Ende der Sechziger war es durchaus nicht unüblich, Kinder im Bett mit einem Gurtsystem zu fixieren, damit sie nicht herausfielen. Nun hatte mich meine Mutter eines Mittags im großelterlichen Schlafzimmer ins Kinderbett gelegt und dort festgemacht. Als sie kurz darauf mit Omma in der Küche saß und ich wie am Spieß zu schreien begann, hieß es erst: »Ach, der will nur nicht schlafen, der ist immer so unruhig!« Als das Geschrei jedoch nicht nachlassen wollte, wurde es meinem Oppa irgendwann zu bunt beziehungsweise zu laut. Er ging nachsehen und stellte fest, dass ich gerade dabei war, mich zu strangulieren, das Gesicht schon puterrot. Mein Oppa tat darauf hin zweierlei: Zum einen holte er aus der Küche ein Brotmesser und schnitt dieses Gurtsystem durch. Dann legte er in aller Ruhe das Brotmesser zurück in die Besteckschublade, ging zu meiner Mutter und haute ihr zum letzten Mal in ihrem Leben eine runter.

Mittagsschlaf hielt ich schon immer für Zeitverschwendung, wurde aber lange Zeit dazu gezwungen, weshalb ich für diese gar nicht blaue Stunde nach Möglichkeiten suchte, mir die Zeit zu vertreiben. Und so kam es, dass ich, als ich mal wieder bei Omma und Oppa im Schlafzimmer nach dem Mittagessen ruhen sollte, dieser schönen, großen Dose Pena-tencreme ansichtig wurde, die auf Ommas Nachttisch stand. Als meine Mutter nach Ablauf der vorgeschriebenen Ruhezeit wieder ins Schlafzimmer kam, hatte ich das aus dunkler Eiche gezimmerte Ehebett flächendeckend mit Penaten-creme verschönert und war dann, von der Arbeit ermattet, mit verschmierten Händen eingeschlafen. Omma lachte sich nicht nur kaputt, sondern war auch noch stolz darauf, was ihr Enkel zu leisten imstande war: »Das ist doch eine Heidenarbeit! Mit so kleine Hände! Der wird bestimmt mal Anstreicher!«

Als ich aus dem Kleinkindalter heraus war, übernachtete ich vor allem an den Wochenenden bei Omma und Oppa, weil meine Eltern gerade mal Mitte, Ende zwanzig waren und das taten, was ich später in diesem Alter auch tat: das Leben und die Liebe feiern. Am meisten interessierte ich mich für die Katakomben des Rathauses. Der Heizungskeller, das Revier meines Oppas, hatte es mir besonders angetan. Wir fuhren mit dem Lastenaufzug in den Keller, gingen durch zwei Türen, und dann konnte man durch ein Gitter in den mich als Knirps riesig anmutenden Heizungsraum mit den ebenfalls riesigen Kesseln blicken. So ungefähr musste es im Maschinenraum eines Raumschiffs aussehen, war ich mir sicher. Das Tollste aber war eine kleine Werkstatt, die in den riesigen Raum hineingebaut worden war, vier Wände, ein Dach, alles da. Ein Raum im Raum! Die Welt war voller Wunder!

In den bewegten Siebzigern waren die Bombendrohungen das Lustigste. Alle paar Monate rief irgendein Scherzbold oder auch ein Sympathisant der RAF bei der Polizei an und behauptete, im Bochumer Rathaus sei eine Bombe versteckt. Das geschah gern auch mitten in der Nacht, wenn die Sympathisanten sich für die Weltrevolution fit soffen und übermütig wurden. Dann stand plötzlich ein »Schutzmann« bei uns vor der Tür und wir wurden im Schlafanzug evakuiert. Das war noch spannender als der Raum im Raum.

Die Wohnung befand sich übrigens direkt neben dem alten Glockenturm des Rathauses, der Viertelstunden im Westminster-Schlag verkündete und zu jeder vollen Stunde ein Lied spielte. Bei der Tagesschau verpassten wir so immer die wichtigsten Nachrichten, weil wir Karl-Heinz Kopeke nicht verstehen konnten.

Als ich älter wurde, nutzte ich vor allem die handfesten Vorteile, die das Leben im Rathaus bot. Bis 1985, als meine Großeltern dort auszogen, musste ich kein Blatt Papier käuflich erwerben. Auch Schreibtische, Aktenschränke und Bürostühle wurden »organisiert«, eine Mentalität, die sich zum einen aus der harten Zeit nach dem Kriege speiste, zum anderen aus der Tatsache, dass die öffentliche Hand, verglichen mit heute, einfach ziemlich gut bei Kasse war.

Und als Omma dann auch noch Abteilungsleiterin der Telefonvermittlung wurde, wurde es noch besser. 1982 ging meine erste große Liebe für ein Jahr in die USA, aber wer über so exzellente Verbindungen verfügte wie ich, der musste den Kontakt nicht abreißen lassen. Alle paar Wochen fand ich mich am Samstag oder Sonntag bei Omma ein und telefonierte eine halbe oder eine ganze Stunde mit Sugar Grove in Illinois. Nun wurden aber sämtliche Gespräche zentral registriert. In einem der Telefonvermittlung angegliederten Raum voller Schränke mit Relais und geheimnisvollen Schaltungen kam aus einem Gerät ein langer, breiter Streifen Papier, auf dem zu lesen war, welche Nebenstelle welche Nummer angerufen hatte und wie lange das Gespräch gedauert hatte. Jede Gebühreneinheit ergab eine Zeile. Hatte ich zu Ende gesäuselt, ging ich mit Omma rüber in die Vermittlung, und Omma schnitt einfach einen halben Meter Papier ab und tilgte so die Spur meines Tuns. Ihre offizielle Erklärung lautete: »Ich kann mir das auch nicht erklären, alle paar Wochen reißt da das Papier, weiß der Geier, wieso!«

Meine Omma war stets im ganzen Rathaus, bei allen Dienststellen sehr beliebt. Heute würde man sie als »Netzwerkerin« bezeichnen. Damals hieß es nur: »Ich kenne jeden, jeder kennt mich!« Und so nimmt es nicht wunder, dass Ommas Verabschiedung aus dem Dienst Anlass für ein regelrechtes Gelage war. Ohne ins Detail gehen zu wollen, möchte ich nur festhalten, dass, als ich mittags um halb zwei nach der Schule zur Feier stieß, um beim Bierzapfen zu helfen, das erste Fünfzigliterfass rausgerollt wurde. Leer. Dienstbeginn war um acht gewesen, und in fünfeinhalb Stunden schafft man schon mal ordentlich was weg.

Als das Bochumer Rathaus im Jahre 2006 sein 75-jähriges Jubiläum feierte, war meine Omma als Ehrengast geladen. Zusammen mit einem Fernsehteam suchten wir die Räume auf, in denen früher die Wohnung von Omma und Oppa untergebracht gewesen war. Ich kam mir vor wie in der Fernsehserie »Time Tunnel«. Zwar wirkten die Räume naturgemäß sehr viel kleiner als in meiner Erinnerung, auch waren Schlaf- und Wohnzimmer ein wenig umgestaltet und mit einem Durchbruch versehen worden, doch in der ehemaligen Küche lag tatsächlich noch der PVC-Belag, den Omma und Oppa dort Anfang der Siebziger hatten verlegen lassen.

Ommas Kommentar: »Der is auch teuer genuch gewesen. Is klar, datt der sich hält!«

Geradezu gespenstisch aber war es, das Badezimmer zu betreten. Hier waren noch dieselben gelben Kacheln wie damals an der Wand, auf einigen noch immer die Prilblumen, die ich höchstselbst als Kind dort angebracht hatte! Im Toilettenbereich bogen sich Plastikfliesen aus den Fünfzigern von der Wand, auf der Holzverblendung der Rohre hinter der Kloschüssel klebte noch die Folie mit Blumenmuster, die Omma dort angebracht hatte. Neben der Tür der Garderobenhaken, an dem in der guten alten Zeit immer Oppas gestreifter Bademantel gehangen hatte. Aber komplett zerrissen hat mich der Anblick des Waschbeckens, über dem noch Oppas orangefarbener Rasiererhalter aus den Siebzigern hing. Nur die auf Füßen stehende Badewanne war herausgerissen und durch einen Kopierer ersetzt worden.

»Ich würd hier sofort wieder einziehn«, meinte Omma.

Ich auch.

 

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